Pet Shop Boys – Nonetheless
Nach etlichen Wochen intensiven Hörens des neuen Albums möchte ich doch nun hier in guter Tradition meine Gedanken dazu loswerden.
Wenn ich davon ausgehe, wie oft ich die Platte aufgelegt und durchgehört habe – in welchem Format auch immer (nur die Kassette hat es noch nicht in den Player geschafft) – das hat in dieser Zeit in dieser Intensität lange kein Album der Jungs geschafft.
„Electric“ war wohl das letzte, welches so durchgehend auf dem Plattenteller lag. Aber das ist nun auch schon über zehn Jahre her – und da gab es „Bolshy“ zum permanenten skippen…
Nichtdestotrotz waren die Alben dazwischen, „Super“ und „Hotspot“, für mich hervorragend.
Das ist das, weswegen die Pet Shop Boys meine Allzeit-Favoriten bleiben: sie machen (für mein Empfinden) einfach keine schlechten Alben – und das bis heute, wofür ich unendlich dankbar bin.
Keines seit „Very“ und zuvor „Behaviour“ (evtl. auch „Release“) war für mich so geschlossen, rund und schlüssig wie es „
Nonetheless“ ist. Der durchgängige Einsatz des Orchesters bestimmt die Produktion und das Gesamtgefühl – aber das Elektronische, Tanzbare bleibt dabei nicht auf der Strecke.
Melodisch und lyrisch stark mit einer Menge Selbstreferenzen, nebenbei wird eine ganze Menge Zeitgeschichte aufs Tableau geholt, dazu quasi die Strophe zwischen 2 und 3 von „Being Boring“ nachgereicht – und irgendwie ist auch ein neuer Beatles-Song dabei, der gar nicht von den Beatles ist...
Das kann eigentlich nur zur Höchstnote führen... Aber der Reihe nach.
Track 1: Es beginnt mit „
Loneliness“ als Opener – in der auch schon bekannten, deutlich besseren Album-Fassung. Eigentlich schade, dass man den Steigerungseffekt zur nicht ganz runden Single-Version schon vorher hat verpuffen lassen.
Als Eröffnung funktioniert der Song aber vortrefflich, er bringt mit dem Orchestereinsatz den Charakter des Albums sofort auf den Punkt. Melodisch, voller Gefühl und gleichzeitig tanzbar, mit einer schönen Geschichte. Durch die musikalische Erweiterung gewinnt er ja sowieso schon. (9)
Track 2: „
Feel“ hatte im Vorfeld bei mir schon große Erwartungen geweckt, als Neil in einem Interview sagte, dass man den Song lieben würde, wenn man „Miracles“ mag, was ja in der gleichen Zeit geschrieben wurde. Inzwischen denke ich, dass Neil es wohl eher inhaltlich gemeint hat – musikalisch werden die Karten ganz anders gemischt: rhythmischer, tanzbarer, ein wenig bei Kraftwerk Anleihen nehmend.
Insofern musste ich mich an den Song erst rantasten, musste er sich zeigen und entwickeln – das hat er aber getan und ist für mich ein schöner runder Wohlfühlsong. (8)
Track 3: Was für ein Paukenschlag – oder eher: Fanfaren-Triumph! Schon vorab in der Radio-Sendung am Vorabend der Veröffentlichung hatte ich „
Why am I Dancing“ gehört und war sofort schockverliebt. Diese Euphorie, die einen sofort zum Tanzen aufs (Küchen-)Parkett zieht!
Der Song bringt in seiner Gesamtheit ein Grundgefühl der letzten Jahre auf den Punkt und wirkt in Musik und Text unwiderstehlich.
Dass der Song quasi ein Vorbote für das nächste Bühnenstück "Naked" ist, trägt deutlich zur Vorfreude darauf bei.
Einziges Manko: zu kurz… (10)
Track 4: Ein Thema, was Neil so oft schon aufgeworfen hat – in „Two divided by Zero“, „Something Special“, „London“ und nicht zuletzt „Being Boring“: Ankommen in London mit all den Hoffnungen und Ängsten, die man als junger Mensch – und ganz konkret er selbst, hat.
Auch wenn David Bowie die Inspiration für „
New London Boy“ gewesen sein mag – es ist im Grunde Neil selbst, um den es hier geht. Irgendwie die neue dritte Strophe von „Being Boring“, die die Zeit nach dem Ankommen beschreibt.
Sehr melodisch, durch das Saxofon noch verstärkt – und mit dem Rap in der Bridge, der natürlich auf „West End Girls“ gemünzt interpretiert werden kann, wird eine schöne Spannung erzeugt.
Auch an dieses Lied musste ich mich erst rantasten, aber es ist fulminant gewachsen und bis zur Höchstnote gereift. (10)
Track 5: „
Dancing Star“ ja vorab auch schon ausgekoppelt, kommt musikalisch nach wie vor nicht ganz an mich ran. Produktionstechnisch sind eine Menge schöner kleiner Details dabei, die dann doch neugierig auf’s Wiederhören machen – aber so ganz springt der Funke nicht. Der einzige Song, bei dem der Skip-Finger zuckt...
Das Video zur Single-Auskopplung hatte, im Gegensatz zu dem von „Loneliness“, noch einen anderen Zugang zum Song verschafft, hatte die erzählte Geschichte pulsieren lassen – und dazu passt die Musik vortrefflich.
Schade, dass der Song so kurz ist – und auch keine längere Album-Version existiert, die mich vielleicht noch mehr abgeholt hätte. Um so bemerkenswerter ist es allerdings, wie in dieser Kürze eine ganze dramatische Biografie bebildert wird. (7)
Track 6: Neils Lieblingssong, die potentielle dritte Single. „
A New Bohemia“ kam erstmalig ebenfalls im Radio-Preview an mein Ohr. Die ersten Akkorde: erst einmal Ernüchterung – es klang irgendwie dünn und billig, was aber auch dem Stream geschuldet sein konnte.
Aber dann breitet sich unbändige Schönheit in Beatles-Manier aus. Ich vermute, dass Paul McCartney etwas neidisch ist…
Das Orchester, die Streicher, alles umschmeichelt das Ohr, die Melodie ist zum Niederknien. Fast nebensächlich, dass im komplexen Text historische Begebenheiten abgehandelt und referenziert werden. Jeder kann sich hier irgendwie mit seiner eigenen melancholischen und textlichen Interpretation hinein versetzen.
Ein Song, der zu Tränen rührt. (10)
Track 7: Schon krass, dass nach der Textzeile „I wish I lived my life free and easier“ „
The Schlager Hit Parade“ angestimmt wird – gegensätzlicher im Lebensentwurf geht es wohl kaum.
Der Song, der mich in der Album-Ankündigung ziemlich neugierig gemacht hat, erfüllt die Erwartungen nicht ganz. Das Ganze hätte das Zeug für mehr gehabt. Ich hätte mir alles etwas schmissiger gewünscht – richtig schön auf die 12 wie bei „Purple Zone“ mit Soft Cell.
So plätschert es etwas klischeehaft dahin, aber mit Blick auf Instrumentierung und Text ist es halt wohl als Parodie so gewollt, die am Ende sogar Bierzelt-Mitgröhl-Potential hat. (7)
Track 8: Und auch hier inhaltlich wie musikalisch ein ziemlicher Bruch. Aber auch irgendwie konsequent, nachdem es mit dem Schlager nicht geklapppt hat, das Geheimnis des Glücks zu suchen.
„
The Secret of Happiness“ ist für mich der obligatorische Ausreißer-Song des Albums, der nicht in die konzeptionelle Schublade passt.
Natürlich, hier macht das Orchester die gesamte Arbeit, ist quasi nichts von Electro-Pop zu hören, aber das wertet Komposition, Text und Arrangement ja nicht ab – es ist eher die konsequente Kulmination der Einbindung verschiedenster orchestraler Elemente, die die Jungs über die Jahrzehnte immer mit dabei hatten.
Im Bossa Nova Style eine schöne Rumba zu Klängen der Pet Shop Boys aufs Parkett legen zu können, ist auch eine schöne Erfahrung (mal sehen, wann das bei Let’s Dance verwendet wird). Allerdings sind Rumba-Klänge ja auch keine Neuheit seit dem hinreißenden „It Always Comes as a Surprise“ von Bilingual.
Für mich neben „Why am I Dancing“ DAS Highlight des Albums! (10)
Track 9: Das Problem an dem Song: ich will eigentlich in meinem Leben nicht mehr als unbedingt vermeidbar an diesen unsäglichen Ex-US-Präsidenten erinnert werden. Insofern hätte zumindest die kontextuelle Erläuterung zu „
Bullet for Narcissus“ im Vorfeld unterbleiben dürfen (es gibt sicher genug andere Konstellationen, auf die man den Text beziehen kann).
Deswegen kann man zu solch einem Text eigentlich auch nicht unbeschwert tanzen, wozu diese schöne housige Nummer aber im Grunde animiert. Musikalisch wirklich ein unbeschwerter Song mit einer tollen orchestralen Bridge – textlich ist mir das Ganze etwas zu holprig. Trotzdem kein Ausrutscher. (8)
Track 10: Was für ein Finale! Auch hier wird wieder schwerer historischer Kontext aufgearbeitet, wiederholt auf Oscar Wilde Bezug genommen.
Wie sich in „
Love is the Law“ die Spannung aufbaut, ist ganz großes Kino. Fast schon minimalistisch, immer wieder auf- und abschwellend, den Text wunderbar untermalend.
Auch wenn man nicht Oscar Wilde im Kopf hat, kann man sich aus vielen kleinen Textpassagen seine eigenen universellen Weisheiten zum Thema Liebe herausziehen.
Und: die letzte Minute, speziell die letzten 45 Sekunden! Was für ein krasser Abschluss ist das?! Voller Dramatik, Verzweiflung und Energie! Nur „Jealousy“ in der extended Version reicht da heran – vielleicht ist das auch der Bezug, der musikalisch hergestellt werden soll? Die Harfen…
Irgendwas wird da musikalisch zitiert, vielleicht „Always on my Mind“ – ich finde es aber nicht so richtig heraus. Einfach grandios! (10)
Zusammengefasst sind es irgendwie 89 von 100 Punkten – aber das ist es ja nicht allein.
Produktion und Grundstimmung, Spannungsbogen und innerer Zusammenhalt, Klang – alles passt.
So wie ich damals bei „Super“ eine Analogie zu „Please“ gezogen habe, weil aus meiner Sicht im Album die gleiche Geschichte in einer neueren Zeitebene erzählt wurde, würde ich heute sagen, dass „
Nonetheless“ ein zweites „Beaviour“ ist – aber halt nicht ganz, weil es schon irgendwie durchgehend tanzbarer daher kommt.
Dazu kommt, dass mit der Blu-ray-Veröffentlichung und dem darauf befindlichen Dolby-Atmos-Mix noch einer drauf gesetzt wurde! Damit erschließt sich die Schönheit des Albums noch einmal richtig, entfaltet sich die Produktion mit ihrem Klang und Arrangements in voller Breite.
Die Abmischung kommt nicht so spektakulär einher wie „Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd, aber sie hat Seele und erweitert die Wahrnehmung der Musik auf unaufdringliche Weise.
Damit hat es auf meiner Heimanlage gerade das Vinyl etwas schwerer, mal auf den Plattenteller gelegt zu werden – aber zum Glück gibt es da die Zoetrope-Vinyl-Ausgabe zur Motivation…
Alles in allem ein rundes Gesamtpaket als Album (10).
Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass es mit der Singles und den dazugehörigen ziemlich guten bis grandiosen B-Seiten noch eine Menge weiteres Material gibt und mit „
Furthermore“ obendrein noch eine schöne experimentelle Spielerei dazu gelegt wurde, kann man eigentlich nur glücklich und zufrieden sein.
Ich bin es jedenfalls.
Ach ja, und nach diesem Album schreit eigentlich alles nach einer Orchester-Tour - man wird ja wohl noch träumen dürfen
